Kyoto – Begegnung mit dem wahren Drachen

Die Idee des Drachens

Der Zen-Meister Gudo beauftragte den bedeutenden japanischen Maler Kano Tanyu mit einem Drachengemälde, verlangte von ihm aber, dass er es einem lebendigen Drachen nachempfinden solle. Der Maler musste voller Unbehagen mitteilen, dass er noch keinen echten Drachen gesehen habe. Für den Zen-Meister war das kein Problem, er lud Kano zu sich in den Tempel ein, um dort lebendige Drachen erleben und zeichnen zu können. Kano musste allerdings wiederum gestehen, dass er die Drachen nicht sehen könne. So blieb er zwei Jahre im Tempel und praktizierte Zazen. Nach einem Jahr konnte er einen Drachen sehen, das reichte dem Zen-Meister noch nicht. Als Kano den Drachen hören, sehen und fühlen konnte, sollte er mit seinem Gemälde beginnen, das man heute im Myoshinji Tempel in Kyoto immer noch bewundern kann. Diese Geschichte hatte in mir den Wunsch geweckt, Kyoto, den Tempel und den Drachen einmal zu besuchen.

Stadt der Tausend Tempel

Nun sind wir in Kyoto und auch wenn man wenig vom Buddhismus oder Shintoismus im täglichen Leben merkt, sind hier Tempelanlagen allgegenwärtig. Kyoto soll über 2000 Tempel und Schreine beherbergen und es ist einem unmöglich nicht täglich über Dutzende von ihnen zu stolpern. Meist wird man magisch angezogen von ihrer schlichten Eleganz und Schönheit und so ähnelt ein Besuch in Kyoto einem Besuch in einem Freilichtmuseum. Man läuft durch die engen Straßen, schaut, staunt und entdeckt viele kleine Schätze genauso wie überfüllte Touristenattraktionen. Vor allem die Wahrzeichen der Stadt, zu denen einige berühmte Tempel und Schreine sowie der Bambuswald gehören, sind hoffnungslos überlaufen und man wird eher angerempelt als von einer inneren Zen-Ruhe überwältigt.

Der wahre Drache

Zum Glück hatte uns der Drache in den Myoshinji Tempel geführt, der von den Massen keine Beachtung findet und eine einem Zen-Tempel angemessene Ruhe ausstrahlt. Das Deckengemälde des Drachens ist tatsächlich sehr beeindruckend. Egal, wo man im Raum steht, der Drache schaut einen immer an und wechselt seine Position, als wäre er in ständiger Bewegung. Der Maler Kano hat keine Weltreise gemacht und viele Eindrücke gesammelt, er hat zwei Jahre an einem Ort verbracht und eine Reise zu sich selbst und zu dem, was Leben bedeutet. Danach konnte er sogar sagen, einen Drachen gesehen zu haben. Ein wenig erleben wir das auch auf unserer Reise. Es ist gar nicht die Vielzahl oder Außergewöhnlichkeit der Eindrücke, sondern wie intensiv man etwas erlebt, dass einen berührt. So wird das Betrachten eines Drachens, der vor ca. 360 Jahren gemalt wurde zu einem besonderen Erlebnis, weil man sich mit Kano freut über den Moment der Erleuchtung und man spürt die Energie, die er gehabt haben muss als er dabei war zu malen. Diese Energie ist die Begegnung mit dem wahren Drachen.

Das Deckengemälde darf nicht fotografiert werden und der Drache auf dem Titelfoto stammt aus einem anderen Tempel. Hier kann man aber einen Eindruck gewinnen von Kanos Drachengemälde.